Agile Produktentwicklungsmethoden finden immer weitere Verbreitung. Sie spielen dort ihre Stärke aus, wo die Lösung eines Problems oder die Anforderung des Marktes nicht bekannt und erst herausgefunden werden muss. Iterative und inkrementelle Vorgehensweisen mit kurzen Feedbackzyklen sind dabei das Mittel der Wahl. Kann und sollte man dieses Prinzip auch auf die Gestaltung von Veränderungsprozesses anwenden? Team- und Organisationsentwicklung also „agil“ betreiben?
Wo in der Produktentwicklung nach einem gescheiterten Experiment oder einer abgeschlossenen Iteration das Ergebnis schlimmstenfalls weggeschmissen oder gelöscht werden kann, verhält es sich in der Team- und Organisationsentwicklung anders. Die individuellen Erfahrungen und die emotionalen Reaktionen auf eine Maßnahme oder auf ein Experiment bleiben im Gedächtnis haften und haben wiederum große Auswirkungen auf das zukünftige Verhalten von Individuen, Teams und Organisationen sowie deren Bereitschaft, sich auf neue Experimente einzulassen. Nach einem gescheiterten Experiment starten wir also nicht bei null! Erkenntnisse aus der Hirnforschung belegen dieses Phänomen unter dem Stichwort „Emotionales Erfahrungsgedächtnis“ eindrucksvoll.
(Weitere Infos unter
https://www.majastorch.de/wp-content/uploads/2020/04/FAZ-26.02.05.pdf)
In der Produktentwicklung spricht man infolgedessen von
„Safe to Fail“, also von der Eigenschaft, negative Auswirkungen eines Experimentes so gering wie möglich zu halten. Ein guter erster Anhaltspunkt, den es auch bei der Planung von Interventionen in Veränderungsprozessen zu berücksichtigen gilt. Auffällig ist hier, dass sich diese Überlegungen häufig nur auf die Auswirkungen auf Prozesse oder Geschäftsabläufe beziehen. Unbeantwortet bleibt die Frage:
Wie können Experimente und deren Durchführung gestaltet werden, damit sie auch für den Menschen „sicher“ sind?
Wie wichtig Sicherheit, Beziehungen und Bindungen innerhalb einer Organisation sind, wird durch ein noch sehr junges Forschungsgebiet der Organisationsentwicklung deutlich: Es kann beobachtet werden, dass auch Teams und Organisationen traumatisiert werden können und ähnlich wie Individuen mit den drei Verhaltensmustern
„Fight-Flight-Freeze“ reagieren. In dem Buch
„Trauma in der Arbeitswelt“ wird beschrieben, dass es vor Allem kleine Auslöser sind, die über einen längeren Zeitraum passieren, die Teams und Organisationen traumatisieren können:
„Traumata sind mitnichten immer nur große Ereignisse, sondern in der alltäglichen Mehrzahl solche, die durch Bindungen und den dabei möglichen Verletzungen […] entstehen.“
Als Beispiel wird dabei das Verdrehen der Augen als Reaktion auf einen Redebeitrag genannt.
(Weitere Infos unter https://www.springer.com/de/book/9783662586211 )
Um in einem unsicheren Umfeld experimentieren und in immer wiederkehrenden Iterationen Veränderungen anstoßen zu können, benötigt es Sicherheit und Stabilität in den Beziehungen der Menschen und KollegInnen untereinander. Eine gute Arbeitsbeziehung zu pflegen sowie Wertschätzung und Anerkennung auszudrücken sind demnach keine „Softskills“ oder einfach nur „Nice to have“, sondern Fähigkeiten für zukunftsfähige und innovative Unternehmen von morgen.
Fangen wir schon heute damit an.